Der Umbau unseres Sozialstaates

Deutschland diskutiert über einen „Boomer-Soli“ – eine Sonderabgabe für „wohlhabende Rentner“, um Altersarmut zu bekämpfen. Während Politik und Medien über diese zusätzlichen Milliarden für die Staatskasse debattieren, verschweigen sie die wahren Dimensionen der deutschen Steuermisere. Ein Blick auf die Zahlen offenbart eine perfide Umverteilung: Während über jeden Euro diskutiert wird, den Rentner zusätzlich zahlen sollen, entgehen dem Staat durch Steuerhinterziehung und -vermeidung jährlich dreistellige Milliardenbeträge – vor allem durch Tech-Konzerne und andere multinationale Unternehmen.

Der „Boomer-Soli“: Ein Tropfen auf den heißen Stein

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schlägt vor, dass wohlhabende Rentner einen „Boomer-Soli“ von 10 Prozent auf alle Alterseinkünfte oberhalb von etwa 1.000 Euro monatlich zahlen sollen. Dieser würde nur die obersten 20 Prozent der Rentnerhaushalte treffen und könnte geschätzte 6,5 bis 8,1 Milliarden Euro jährlich in die Staatskasse spülen.

Bis 2039 werden rund 13,4 Millionen Erwerbspersonen das Renteneintrittsalter erreichen – die Babyboomer-Generation. Der vorgeschlagene Solidaritätsbeitrag dieser Generation klingt nach viel Geld. Doch setzt man diese Summe in Relation zu dem, was dem deutschen Staat jährlich durch Steuertricks und -hinterziehung entgeht, wird die ganze Absurdität der deutschen Steuerdebatte sichtbar.

Tech-Konzerne: Die wahren Gewinner des Systems

Während über jeden Euro diskutiert wird, den deutsche Rentner zusätzlich zahlen sollen, haben sich Tech-Giganten wie Amazon, Google, Apple und Facebook ein Steuerparadies in Europa geschaffen. Ihre Methoden sind so perfide wie effektiv:

Apple führt die Liste der Steuervermeidungs-Künstler an. Der Konzern hat jahrelang Gewinne aus ganz Europa über Tochterfirmen nach Irland verschoben und dort teilweise nur 0,005 Prozent Steuern bezahlt – das sind 50 Euro Steuern auf eine Million Euro Gewinn. Zum Vergleich: Ein deutscher Rentner mit 2.000 Euro Rente zahlt bereits heute mehr Steuern als Apple auf Millionengewinne.

Amazon nutzt ein ausgeklügeltes System von Tochterfirmen und Lizenzgebühren, um Gewinne systematisch in Niedrigsteuerländer zu verschieben. Während deutsche Buchhandlungen im Westend oder in Kreuzberg Vollsteuern zahlen und trotzdem gegen den Konzern kaum konkurrieren können, zahlt Amazon hierzulande praktisch keine Steuern auf seine Milliardengewinne.

Google steht exemplarisch für die Kreativität bei der Steuervermeidung. Französische Ermittler haben bereits die Büros des Konzerns durchsucht – der Vorwurf: Steuerhinterziehung in Millionenhöhe. Frankreich forderte von Google eine Steuernachzahlung von 1,6 Milliarden Euro.

Diese Tech-Konzerne nutzen legale Schlupflöcher, die ihnen von der Politik offen gehalten werden. Sie verschieben Gewinne über konzerninterne Kredite, Patentboxen und „staatenlose“ Tochtergesellschaften. Das Prinzip ist simpel: Hohe Kosten entstehen in Deutschland, hohe Gewinne in Steueroasen.

CumEx: Das Versagen hat System

Der größte Einzelfall deutscher Steuerhinterziehung zeigt, wie pervers das System geworden ist. Beim CumEx-Skandal haben Banken, Hedgefonds und „Finanzinnovateure“ dem deutschen Staat 36 Milliarden Euro gestohlen – mehr als das Vierfache der geschätzten jährlichen Boomer-Soli-Einnahmen.

Die Deutsche Bank, Commerzbank, HypoVereinsbank und die Hamburger Privatbank M.M. Warburg & Co. sind in diesen größten Steuerraub der deutschen Geschichte verwickelt. Sie ließen sich Steuern erstatten, die sie nie bezahlt hatten. Das System war so ausgefeilt, dass es jahre-, teilweise jahrzehntelang unentdeckt blieb.

Besonders perfide: Während die CumEx-Ermittlungen schleppend voranschritten und nur Bruchteile der gestohlenen Gelder zurückgeholt wurden, diskutiert die Politik ernsthaft darüber, Rentnern zusätzliche Abgaben aufzuerlegen.

Die verkehrte Welt der deutschen Steuerpolitik

Die Ironie könnte kaum größer sein: Während wohlhabende Rentner per Sondersteuer zur Kasse gebeten werden sollen, bleibt das große Geld weitgehend verschont. Tech-Konzerne zahlen Minibeträge auf Milliardengewinne, während deutsche Mittelständler Vollsteuern entrichten. Banken stehlen dem Staat zweistellige Milliardenbeträge, während über jeden Euro diskutiert wird, den Senioren zusätzlich zahlen sollen.

Deutsche Milliardäre zahlen oft niedrigere Steuern als ihre Angestellten, nutzen komplexe Gestaltungsmodelle an der Grenze zur Steuerhinterziehung und profitieren von Steuerprivilegien, die in den letzten 30 Jahren systematisch ausgebaut wurden. Schenkungen von Betriebsvermögen über 20 Millionen Euro werden mit weniger als einem Prozent besteuert – ein Rentner mit 1.500 Euro Rente zahlt prozentual mehr.

Das Versagen der Politik

Die Politik kennt diese Zahlen. Sie weiß um die Dimension der Steuervermeidung und -hinterziehung. Trotzdem konzentriert sich die öffentliche Debatte auf einen Solidaritätszuschlag für Rentner, der gerade mal ein Zwanzigstel der jährlichen Verluste ausgleichen würde.

Besonders pikant: Deutschland blockiert auf EU-Ebene Initiativen für mehr Steuertransparenz. Zusammen mit zwölf anderen Mitgliedsstaaten verhinderte die Bundesregierung Gesetze, die Konzerne wie Amazon, Google und Apple dazu zwingen würden, ihre Steuerpraxis offenzulegen.

Die große Umverteilung?

Deutschland erlebt tatsächlich eine massive Umverteilung – nur läuft sie genau andersherum als behauptet. Während über zusätzliche Belastungen für Rentner debattiert wird, fließen Jahr für Jahr über 100 Milliarden Euro von den ehrlichen Steuerzahlern zu den großen Konzernen und Vermögenden.

Der „Boomer-Soli“ ist ein Ablenkungsmanöver. Statt die strukturellen Probleme anzugehen – die Steueroasen trockenzulegen, die CumEx-Milliarden zurückzuholen und Tech-Konzerne zur Rechenschaft zu ziehen – wird die Aufmerksamkeit auf eine Neiddebatte zwischen den Generationen gelenkt.

Die wahre Umverteilung in Deutschland läuft seit Jahrzehnten: Von unten nach oben, von den Ehrlichen zu den Tricksern, von den Rentnern zu den Konzernen. Und während die Politik über 8 Milliarden Euro vom „reichsten Fünftel“ der Rentner diskutiert, verschenkt sie stillschweigend 100 Milliarden Euro an die wirklich Reichen.

Die Botschaft ist klar: Nehmt es den Armen und gebt es den Reichen – das deutsche Steuersystem macht es möglich.