Die Betriebsratswahlen stehen nach vier Jahren in Deutschland wieder an, einige sind bereits gestartet. Der Wunsch nach der Digitalisierung von Betriebsratsarbeit, insbesondere im Hinblick auf die Durchführung von BR-Wahlen als Online-Wahl, wird immer lauter. Passend zum heutigen Tag der Betrieblichen Mitbestimmung möchten wir zum Status Quo und den Trends Bilanz ziehen. Dazu haben wir zwei Experten mit jahrelanger Erfahrung in der Betriebsratsarbeit interviewt. Die spannenden Antworten teilen wir mit Ihnen in diesem Beitrag – inklusive Top Tipps für die Digitalisierung von Betriebsratswahlen.
POLYAS: Können Sie sich bitte kurz vorstellen?
Rüdiger Kösling: Mein Name ist Rüdiger Kösling, ich bin Gründer und Geschäftsführer der Agentur Consilium. Ich war jahrelang Betriebsratsvorsitzender eines mittelständigen Unternehmens, Mitglied im Gesamtbetriebsrat und später im Konzernbetriebsrat. Bis ich 2018 die Agentur Consilium gründete. Die Philosophie der Agentur Consilium ist es, das erworbene Wissen und die Erfahrungen, aber auch die Möglichkeiten einer digitalisierten Arbeitswelt an Betriebsratskolleginnen und Kollegen weiter zu geben.
Stefan Graffweg: Mein Name ist Stefan Graffweg, ich bin freier Mitarbeiter bei der Agentur Consilium. Zuvor war ich 15 Jahre lang Betriebsrat in einem Unternehmen mit Konzernstruktur und zirka 70.000 Beschäftigten. Ich komme also wie Herr Kösling aus der Praxis und möchte mein Wissen an die nächste Generation von Betriebsräten weitergeben.
POLYAS: Welche Top 10 Tipps können Sie für die bevorstehenden Betriebsratswahlen geben?
Stefan Graffweg: Die Voraussetzungen für rechtskonforme und rechtssichere Wahlen sind erfahrungsgemäß in jedem Unternehmen anders. Dennoch kann ich mehrere Best-Practice-Tipps geben:
- Verwenden Sie, da wo es möglich ist, das normale Wahlverfahren. Das vereinfachte Verfahren ist in pandemischen Zeiten schlecht durchführbar und keineswegs einfacher.
- Setzen Sie dort, wo es möglich ist, digitale Helfer ein. Das erleichtert die Arbeit als Wahlvorstand enorm.
- Seien Sie mutig und gut vorbereitet. Auf die Schulung von Wahlvorständen darf und kann nicht verzichtet werden. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Wahlordnung bergen zu viele Stolperfallen. Außerdem ist die Welt erstaunlich voll von “schlechten Verlierern”.
Rüdiger Kösling: Da erfahrungsgemäß jedes Unternehmen anders funktioniert, ist es schwierig Top 10 Tipps zu geben. Ich würde aber jedem Wahlvorstand raten:
- Die Betriebsratswahl so “digital” wie möglich durchzuführen. Es erleichtert die Arbeit und spart Zeit.
- Digitale Kommunikationsmittel einzusetzen, wo es möglich ist. Viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arbeiten zurzeit im Homeoffice. Das wird sich bis zum Wahltermin auch nicht deutlich ändern. Darum ist es wichtig die Wählerinnen und Wähler über E-Mail und Videokonferenzen zu informieren.
- Die Schulungen des Wahlvorstandes sind das A+O einer rechtskonformen Betriebsratswahl! Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz hat einige Neuerungen gebracht. Das macht die Betriebsratswahl leider nicht digitaler, sondern nur anders.
Polyas: Wie stehen Sie zum Thema „Digitalisierung von Betriebsratswahlen“?
Stefan Graffweg: Hätte ich gerne!
Rüdiger Kösling: Ich auch! Nur leider sind unsere Wirtschaft und unsere Rechtsprechung noch nicht so weit. Obwohl die Wirtschaft sich langsam digitalisiert, ist die Gesetzgebung und die Rechtsprechung noch analog. Die digitale Betriebsratswahl hat sehr viele Vorteile, ist aber leider anfechtbar.
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Polyas: Würden Sie dem Wahlvorstand empfehlen, die Nominierungen für die BR-Wahlen online umzusetzen?
Stefan Graffweg: Nicht in jedem Fall. Allerdings ist die Online-Nominierung definitiv das demokratischere Prinzip. Es ermöglicht jedem Wähler von wo auch immer, wann auch immer und maximal geschützt seine Kandidaten zu benennen und zu stützen. Ich befürworte manipulationsfreie und demokratische Wahlen – online ist da einfach zeitgemäß.
Rüdiger Kösling: Wir schulen die Wahlvorstände im analogen – wie auch im digitalen Wahlverfahren. Nach dieser Schulung würde ich den Wahlvorständen die digitale Nominierung absolut anraten. Wie Herr Graffweg bereits ausgeführt hat, ist die digitale Nominierung der BR Kandidaten ein sicheres, manipulationsfreies und demokratisches Verfahren. Dieses kann der erste Schritt hin zu einer digitalen Wahl sein. In einer digitalen Arbeitswelt sind Online-Wahlen unverzichtbar.
Wie unsere Machbarkeitsstudie der TH Brandenburg aufgezeigt hat, ist immer dort, wo ein Online-Wahlverfahren angewendet wurde, die Wahlbeteiligung gestiegen. Warum nicht auch bei Betriebsratswahlen? Sowie die Digitalisierung der Arbeitswelt für mich alternativlos ist, sind auch Online-Wahlen alternativlos. Nur leider sind die Werkzeuge für eine Betriebsratswahl, nämlich das Betriebsverfassungsgesetz und die Wahlordnung, noch analog. Ich würde mir wünschen, dass Wahlvorstände, Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen mutigen Schritt in Richtung Zukunft gehen und die Online-Wahl einfach durchführen. Aus meiner Sicht führt die Online Wahl nicht per se zur Nichtigkeit der BR Wahl, da das Wahlverfahren nicht die Grundsätze der demokratischen Wahl verletzt. Somit dürfte nur nach einer gerichtlichen Wahlanfechtung eine Ungültigkeit der Wahl festgestellt werden können. Allerdings streiten hier die Gelehrten.
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Polyas: Wie digital sind Ihrer Meinung nach die Betriebsräte, gibt es Interesse an der Digitalisierung?
Stefan Graffweg: Ich sehe, dass der überwiegende Teil der Betriebsräte noch analog unterwegs ist. Um das zu verändern, bedarf es nicht nur des Interesses an digitalen Arbeitsmethoden. Hier ist vielmehr eine veränderte Arbeitsweise zwischen Arbeitgebern und Betriebsräten vonnöten. Beide Sozialpartner müssen die zunehmende Digitalisierung vertrauensvoll und im Gleichschritt bewältigen.
Rüdiger Kösling: Zu viele Betriebsräte arbeiten immer noch analog. Und das in einer Wirtschaft die sich digitalisieren will! Um die Arbeitsweise von analog auf digital umzustellen, bedarf es Zeit. Zeit die viele Betriebsräte nicht haben. Viele Betriebsräte kämpfen gegen ihren Arbeitgeber um jede Minute Betriebsratsarbeit. Dann auch noch Zeiten für die Digitalisierung der Betriebsratsarbeit zu erstreiten ist schwierig. Nur in einer Atmosphäre des Vertrauens und gegenseitigen Respektes wird es die Möglichkeit des digitalen Umbaus der Unternehmen geben.
Polyas: Mit dem Koalitionsvertrag wurde ein wichtiger Grundstein für digitale Betriebsratswahlen gelegt. Wann rechnen Sie mit weiteren Gesetzesänderungen, die Erleichterung für die Digitalisierung von Betriebsratswahlen ermöglichen?
Stefan Graffweg: Es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, auch wenn es heute nicht mehr als eine Absichtserklärung der Bundesregierung ist. Ob und wann daraus eine Rechtsnorm erwächst, lässt sich natürlich schwer abschätzen. Ein Unternehmen wie POLYAS gestaltet die digitale Mitbestimmung heute schon aktiv und innovativ mit. Die Gruppe der digitalen Denker und aktiven Mitstreiter wird größer und damit steigt dann auch die Chance auf die Umsetzung der im Koalitionsvertrag verankerten Absichten.
Rüdiger Kösling: Das “Handwerkzeug” der Betriebsräte ist das Betriebsverfassungsgesetz. Dieses besteht seit 1972, also seit 50 Jahren, und ist damit zwangsläufig analog. In dieser Zeit ist es zwei oder drei Mal novelliert worden. Zu hoffen, dass eine gesetzliche Digitalisierung bis zur Betriebsratswahl 2026 stattfindet, ist Träumerei.
Der Koalitionsvertrag beinhaltet keinerlei konkrete Aussagen darüber, wie Betriebsräten im digitalen Wandel der Arbeitswelt geholfen werden kann. Auch gibt es keine Anhaltspunkte darüber, ob und wie die Digitalisierung der Betriebsratswahlen stattfinden soll. Der Koalitionsvertrag sagt lediglich aus, dass ein Pilotprojekt die Online-Betriebsratswahlen erproben wird. Die Wahltermine für die Betriebsratswahl liegen zwischen März und Mai 2022. Die nächsten Betriebsratswahlen werden zwischen März und Mai 2026 liegen. Davor ist allerdings noch die Bundestagswahl. Was ich damit sagen will: Sich nur auf den Gesetzgeber zu verlassen, ist nicht genug. Wir brauchen mutige Unternehmen mit mutigen Wahlvorständen, die die digitale Wahl durchführen. Vielleicht genügt auch nur die “Duldung” der Online-Wahl durch die Arbeitsgerichte.
Polyas: In welchen Bereichen berät die Agentur Consilium und hilft bei der Betriebsratsarbeit weiter?
Rüdiger Kösling: Als kleine Agentur können wir uns voll auf die Bedürfnisse unserer Kunden einstellen. Die zeitliche und räumliche Lage von Weiterbildung ist durch Corona anspruchsvoller geworden. Da sind wir als kleines Unternehmen deutlich flexibler im Markt unterwegs, als große Anbieter.
Thematisch bieten wir von der Einleitung der Betriebsratswahl über die Grundlagenschulung von Betriebsräten bis hin zum Datenschutz alles an, was für die Betriebsratsarbeit notwendig und erforderlich ist. Ein für unsere Kunden interessanter Aspekt ist dabei sicherlich, dass wir aus der Praxis kommen.
Von Praktikern für Praktiker, das leben wir. Herr Graffweg und ich, wir haben unseren Beruf zur Berufung gemacht. Als zertifizierte Bildungsreferenten arbeiten wir mit einem Netzwerk aus Bildungsträgern, Fachanwälten, langjährigen Betriebsräten, Fachhochschulen und Firmen zusammen. Davon profitieren unsere Mandanten und Kunden.
Herzlichen Dank für das spannende Interview!